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Faszination

„Faszination. Ich liebe diese Melodie – dieses sanfte, gleichzeitig schwungvolle; es scheint, die Musik fordert uns dazu auf, zu tanzen; man schwebt sozusagen auf einer Welle mit und kann gar nicht anders, als sich im Moment zu verlieren. Alleine durch den Film mit Audrey Hepburn hat sich die Bekanntheit von Marchettis Stück vervielfacht. Liebe am Nachmittag, ja, bei dieser Melodie kann es nur um Liebe gehen. Es passt perfekt. Finden Sie nicht auch?“
Sarah sieht auf, doch ihr Gegenüber – besser gesagt ehemaliger Gegenüber – hat sich bereits erhoben und steuert den Nachbartisch an. Selbst sein Name, stand er doch auf dem Schild, befestigt an seinem gebügelten Hemd, ist schon aus ihrer Erinnerung gelöscht.
Enttäuscht blickt Sarah auf die Tischplatte. Kratzer und kleine Kerben.
Was für eine blöde Idee ihrer Freundin Kati: Sarah und Speeddating. Sarah, die Leuten nicht in die Augen sehen kann. Sarah, der man autistische Züge nachsagt. ‚Glaub mir, das bringt was‘, meinte Kati noch, als Sarah nach langer Diskussion aufgegeben und sich gefügt hatte.

Sie starrt weiter auf die Tischplatte, während sich jemand setzt.
„Faszination ist perfekt“, flüstert Sarah vor sich hin. „Ich hörte die Melodie aus den beiden dunklen Fenstern an jenem Abend, dort, wo ich mit Rudolfo den Abendspaziergang mache, wenn die Stadt langsam zur Ruhe kommt, die Geschäftsleute mit ihren wichtigen Mienen verschwinden und Platz machen für junge, belächelnswerte Halbstarke, die meinen, in jedem Satz muss ‚ficken‘ und ‚Hurensohn‘ vorkommen. Sieben Häuser, die Fassade barocker Pracht nachempfunden – womöglich hat man deswegen das bucklige Kopfsteinpflaster nicht ersetzt, damit die Autofahrer durch die erzwungen langsamere Fahrt die Möglichkeit haben, diesen Anblick zu würdigen – und nahezu jeder Bewohner versuchte, die unerträgliche Hitze des Tages aus den Räumen zu scheuchen, um eine kühle Brise, ja, nur einen erfrischenden Hauch zu erhaschen, der das Gefühl der Taubheit nimmt und erfrischt wie ein Schwall kaltes Wasser. Ich konnte das Brennen des Tages in den Steinen spüren, Rudolfo hingegen störte das nicht im Geringsten. Er klapperte die Bäume der Allee ab – die Buchen wurden immer so gepflanzt, das sie zwischen den beiden Fenstern der Fassade stehen, damit die Menschen, sollten sie aus ihren Fenstern schauen, nicht nur auf einen Stamm blicken – und liest Hundenachrichten. Wenn ihm danach ist, hebt er das Bein und entlässt ein paar Tröpfchen in die Freiheit. Wobei von diesen Tröpfchen nur die Hälfte den Boden erreicht. Der Rest bleibt in den Haaren oder an den Hinterläufen hängen. Und beschmiert später die Hundedecke auf dem Sofa.“
Sarah blickt auf. Ihr sitzt ein Mann gegenüber, lehnt an der billigen Lederimitation der Rücklehne, hat die Arme verschränkt und schaut sie an, einen eigenartigen Ausdruck in seinem Gesicht; eine Mischung aus Freundlichkeit und Überheblichkeit. Frank steht auf seinem Schild. Wie lange sitzt er schon dort?
„Sie sind der weibliche Forrest Gump, oder?“ Seine Stimme hat einen schnarrenden Beiklang.
Er wartet noch einen Moment ab, doch als Sarah nichts erwidert, erhebt er sich und verschwindet aus ihrem Blickfeld.

Es dauert nicht lange, bis sich ihr gegenüber ein jüngerer Mann niederlässt. Er trägt einen Kapuzenpulli, sieht aber ansonsten aus wie ein Hipster.
Doch Sarah ist wieder in ihrer Erinnerung, ihr Blick wird weich. „Mir war es in diesem Moment einerlei“, fährt sie fort. „Marchettis Klänge ertönten leise, ganz zart, man musste schon innehalten, um sie zu hören, und doch waren sie da. Ich stellte mir vor, wie dort, im Dunklen zwei Menschen miteinander tanzen, eng umschlungen, ganz dem Rausch der Gefühle verfallen – dem mächtigsten aller Gefühle – hingebungsvoll, und doch so vergänglich und zerbrechlich wie eine getrocknete Rose.
Rudolfo zog ungeduldig an der Leine, er konnte nicht verstehen, was mich verharren ließ.
In den beiden nächsten Fenster war das Licht gedimmt; ich vernahm ein leises Lachen. Nicht gekünstelt, mehr verliebt, ein Geräusch, das nicht verebbt und vergeht, sondern beendet wird, wie durch einen Kuss.
Das Nebenhaus lag gänzlich still da; dünner Stoff hing lose vor dem dunklen Fenster, als würde jemand dort schlafen.
Aus den Räumen daneben drang Leben, Wortfetzen in unterschiedlichen Stimmlagen, untermalt von den typischen Geräuschen des Bestecks. Gerne hätte ich einen Moment gelauscht, diesen familiären Augenblick verbotenerweise geteilt, doch aus dem Nachbarhaus ertönte ein Schrei, der mich zusammenzucken ließ. Irgendetwas fiel zerbrechend auf den Boden – oder wurde geworfen – ein weiterer Ruf ertönte, gefolgt von Stille. Das Licht erlosch; kurz darauf wurde das Fenster zugezogen. Auch die Essensgeräusche der Familie verstummten einen Augenblick, doch Marchettis leise Klänge waren immer noch zu hören.
Was auch immer gerade geschehen war – es war einfach Leben in dieser Straße, verstehen Sie?“

Sarahs Blick wird fester, erfasst ihr Gegenüber. Ein gutgekleideter, älterer Herr sitzt dort – Eduard; er nickt und blickt – aber nicht in ihre Augen, sondern auf seine Armbanduhr.

Dass Männer nicht zuhören können, dieses Klischee – es stimmt, jedenfalls bei Sarah. Doch heute ist verkehrte Welt.
Irgendwann, so Kati, wirst du ihn finden, den Richtigen. Was auch immer früher war, lass es in der Vergessenheit ruhen.
Sarah schaut auf die Gemälde, welche die Wand neben ihr zweifelhaft schmücken; abstraktes Öl in psychedelischen Farben. Kein Augenschmaus.

Trotz dessen, dass Katis Idee doof war: Sarah genießt es, einfach mal wieder zu reden. Mit Fremden. Smalltalk. Seltsam, wie die Worte fließen.
Entschlossen, diesen Moment nicht vorbeiziehen zu lassen, erzählt sie weiter: „Der Augenblick der Stille wurde jäh durchbrochen – Babygeschrei. Vermutlich war das Kleine geweckt worden. Kurz darauf veränderten sich die gequälten Rufe aus dem kleinen Mund, wurden leiser, entspannter.
Ist das nicht großartig? Was muss das für ein überwältigendes Gefühl sein, die- oder derjenige mit der Macht zu sein, diesen winzigen Menschen zu beruhigen?
Zeitgleich drangen die letzten Klänge von Faszination an meine Ohren, ganz leise, auslaufend.
Aus einem Fenster des sechsten Hauses, dass Rudolfo und ich passierten, lehnte sich ein älterer Mann. Hinter ihm flackerte das Licht in bläulichen Farben; ich vernahm das Lachen einer Frau und Zuschauern gleichermaßen. Bevor der Mann aus meinem Blickfeld verschwand, hob er die Hand an den Mund, entfachte das feurige Rund einer Zigarette und schnippte den glühenden Stummel hinter mir auf den Gehweg.
Während Rudolfo mich weiterzog und ich zu den Fenstern des letzten Hauses emporblickte, spürte ich Traurigkeit, aber ich weiß nicht, wieso. Verschlossene Fenster; kein Leben drang aus ihnen hervor. Meine Hände tasteten wie gewohnt in der Tasche, wurden fündig, ergriffen den Schlüssel.“

„Ihre Zeit ist gleich um“, ertönt eine Stimme nahe des Eingangs. „Die Herren werden ein letztes Mal gebeten, einen Tisch weiterzugehen. Vielen Dank für die zahlreiche Teilnahme, wir wünschen Ihnen allen viel Glück bei eventuellen weiteren Begegnungen!“
Vor Sarah sitzt das Ebenbild eines Geschäftsmannes. Man kann an den obersten Falten seines Hemdes erkennen, dass dort bis vor Kurzem eine Krawatte getragen wurde. Hans heißt er und sieht Sarah aus blauen Augen an, bevor er sich erhebt. „Hat mich gefreut“, murmelt er. Mehr pflichtbewusst als ehrlich.
Sarah beobachtet ihn, wie er sich mit einem Lächeln zu einem Tisch begibt, an dem eine Frau mit dunklen Haaren wartet.

‚Ihre Zeit ist gleich um.‘ Der Satz hallt in Sarahs Kopf nach.
Ihr Blick fällt auf ein Fenster, ein Hund läuft vorüber, pieselt an einen Straßenpfahl, bevor er verschwindet.

Jemand setzt sich. Doch Sarah blickt nicht auf, gerade ist ihr etwas klar geworden. Sie weiß, warum sie an jenem Abend so traurig war, als sie auf die dunklen Fenster geblickt hatte:
„Wenn ich mich nie verliebe, nie mit jemandem tanze, nie jemanden streichle, kein Kind auf dem Arm halte, das Kind nicht umsorge, nie mit einer Familie am Tisch sitze, mich nicht mit meinen Liebsten streite und im Alter alleine bin – habe ich dann wirklich gelebt?“
„Eine gute Einstellung.“ Die Stimme ist leise, klingt fast schüchtern.
Sarah blickt auf. Ein schmächtiger Mann sitzt vor ihr.
Er lächelt.
Auf seinem Schild steht Sebastian.



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(English version: Errors are due to the fact that English is not my native language. You are welcome to help and improve me!)

Fascination

"Fascination. I love this melody - this gentle, at the same time swinging; it seems the music asks us to dance; you sort of float along on a wave and can't help but get lost in the moment. The film with Audrey Hepburn alone has multiplied the fame of Marchetti's piece. Love in the afternoon, yes, this melody can only be about love. It fits perfectly. Don't you think?"
Sarah looks up, but her counterpart - or rather former counterpart - has already risen and is heading for the neighboring table. Even his name, it was written on the sign attached to his ironed shirt, has already been erased from her memory.
Disappointed, Sarah looks at the tabletop. Scratches and small nicks.
What a stupid idea from her friend Kati: Sarah and speed dating. Sarah, who can't look people in the eye. Sarah, who is said to have autistic traits. 'Believe me, it's worth it,' Kati said when Sarah had given up and given in after a long discussion.

She continues to stare at the tabletop while someone sits down.
"Fascination is perfect," Sarah whispers to herself. "I heard the melody from the two dark windows that evening, there, where I take the evening walk with Rudolfo, when the city slowly quiets down, the businessmen with their important expressions disappear and make way for young, smile-worthy half-witted people who think 'fuck' and 'son of a bitch' must be in every sentence. Seven houses, the facade resembling baroque splendor - possibly that's why they didn't replace the humped cobblestones, so that motorists would have the opportunity to appreciate the sight by driving forcedly slower - and almost every inhabitant tried to shoo the unbearable heat of the day out of the rooms to catch a cool breeze, yes, just a refreshing breeze that takes away the feeling of numbness and refreshes like a gush of cold water. I could feel the burning of the day in the stones, but Rudolfo didn't mind in the least. He rattled off the trees of the avenue - the beeches were always planted so that they stood between the two windows of the facade, so that people, should they look out of their windows, would not look only at one trunk - and read dog news. When he feels like it, he lifts his leg and releases a few droplets into the wild. Of these droplets, only half reach the ground. The rest gets stuck in his hair or on his hind legs. And later smears the dog blanket on the sofa."
Sarah looks up. There's a man sitting across from her, leaning against the cheap imitation leather backrest, arms folded and looking at her, a peculiar expression on his face; a mixture of friendliness and arrogance. Frank is standing on his sign. How long has he been sitting there?
"You're the female Forrest Gump, aren't you?" His voice has a crooning overtone.
He waits a moment longer, but when Sarah says nothing back, he rises and disappears from her sight.

It's not long before a younger man sits down opposite her. He's wearing a hoodie, but otherwise looks like a hipster.
But Sarah is back to her memory, her gaze softening. "I didn't care at that moment," she continues. "Marchetti's sounds were soft, very delicate, you had to pause to hear them, and yet they were there. I imagined there, in the dark, two people dancing with each other, tightly embraced, completely addicted to the intoxication of feelings - the most powerful of all feelings - devoted, and yet as fleeting and fragile as a dried rose.
Rudolfo pulled impatiently on the leash, he could not understand what made me pause.
In the next two windows the light was dimmed; I heard a soft laugh. Not artificial, more amorous, a sound that does not ebb and fade, but is ended, as by a kiss.
The adjoining house lay entirely silent; thin cloth hung loosely in front of the dark window, as if someone were sleeping there.
Life came from the rooms next door, scraps of words in different voices, accompanied by the typical sounds of cutlery. I would have liked to listen for a moment, to share this familiar moment, but a scream came from the neighboring house that made me flinch. Something fell shattering on the floor - or was thrown - another shout sounded, followed by silence. The light went out; shortly after, the window was pulled shut. The sounds of the family eating also died away for a moment, but Marchetti's soft sounds could still be heard.
Whatever had just happened - there was just life on that street, you know?"

Sarah's gaze tightened, taking in her counterpart. A well-dressed, older gentleman is sitting there - Eduard; he nods and looks - but not into her eyes, but at his wristwatch.

That men can't listen, this cliché - it's true, at least with Sarah. But today the world is upside down.
Someday, says Kati, you'll find him, the right one. Whatever it was before, let it rest in oblivion.
Sarah looks at the paintings that dubiously decorate the wall next to her; abstract oil in psychedelic colors. Not a feast for the eyes.

Despite that Kati's idea was dumb: Sarah enjoys just talking again. With strangers. Small talk. Strange how the words flow.
Determined not to let this moment pass, she continues: "The moment of silence was abruptly broken - baby crying. Presumably the little one had been awakened. Shortly after, the agonized cries from the little mouth changed, became quieter, more relaxed.
Isn't that great? What an overwhelming feeling it must be to be the one with the power to soothe this tiny human being?
At the same time, the last sounds of fascination reached my ears, very softly, fading out.
From a window of the sixth house that Rudolfo and I passed, an elderly man leaned. Behind him the light flickered in bluish colors; I heard the laughter of a woman and spectators alike. Before the man disappeared from my view, he raised his hand to his mouth, ignited the fiery round of a cigarette, and flicked the glowing stub onto the sidewalk behind me.
As Rudolfo pulled me along and I looked up at the windows of the last house, I felt sadness, but I don't know why. Shuttered windows; no life was coming out of them. My hands groped in my pocket as usual, found what I was looking for, seized the key."

"Your time is about up," chimed in a voice near the entrance. "The gentlemen are asked one last time to move on one table. Thank you for the large turnout, we wish you all the best of luck in any future encounters!"
The spitting image of a businessman sits in front of Sarah. You can tell from the top folds of his shirt that a tie was worn there until recently. Hans is his name, and he looks at Sarah out of blue eyes before rising. "Nice meeting you," he murmurs. More dutiful than sincere.
Sarah watches him walk with a smile to a table where a woman with dark hair is waiting.

'Your time is about up.' The phrase echoes in Sarah's mind.
Her eyes fall on a window, a dog walks by, pees on a street post before disappearing.

Someone sits down. But Sarah doesn't look up; she has just realized something. She knows why she was so sad that night, looking out at the dark windows:
"If I never fall in love, never dance with anyone, never pet anyone, never hold a child in my arms, never care for the child, never sit at the table with a family, never argue with my loved ones, and am alone in my old age - have I really lived?"
"A good attitude." The voice is soft, sounding almost shy.
Sarah looks up. A slight man sits in front of her.
He smiles.
His sign reads Sebastian.



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